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„Resilienz ist wie ein Muskel, den wir trainieren können“: Ein Gespräch über seelische Widerstandskraft in Krisenzeiten – mit Prof. Dr. Brigitte Anderl-Doliwa und Franz-Josef Wagner

Der Begriff Resilienz ist in aller Munde: Gerade jetzt in schwierigen Zeiten sind Eigenschaften und Fähigkeiten wichtig, die uns helfen, Krisen gut zu überstehen – und vielleicht sogar gestärkt daraus hervorzugehen. Doch was ist diese Resilienz eigentlich und wie merken wir, dass wir über seelische Widerstandskraft verfügen?

Unter anderem mit diesen Fragen beschäftigt sich die Initiative „Die Pfalz macht sich/dich stark – Wege zur Resilienz“. Sie setzt sich in ihren Projekten konkret dafür ein, die seelische Gesundheit in der Region Pfalz zu stärken – in ruhigen wie in stürmischen Zeiten. Was Resilienz gerade jetzt ausmacht, hat Projektkoordinatorin Romina Männl im Interview mit zwei Mitgliedern der Initiative, einer fachlichen Expertin und einem Experten aus Erfahrung, beleuchtet: Brigitte Anderl-Doliwa ist Professorin für Pflegewissenschaften an der Katholischen Hochschule Mainz und Pflegedirektorin im Pfalzklinikum. Franz-Josef Wagner ist Vorsitzender von Netz-G, dem Landesnetzwerk Selbsthilfe seelische Gesundheit Rheinland-Pfalz, und selbst erfahren im Bewältigen von seelischen Problemen.

Männl: Frau Prof. Dr. Anderl-Doliwa, Herr Wagner – Resilienz beschreibt die Fähigkeit, gut mit Krisen und Herausforderungen umzugehen und bestenfalls gestärkt daraus hervorzugehen. Wie kommt es, dass manche Menschen in Krisen wie der Corona-Krise ihren Alltag mit Energie und Zuversicht meistern, während andere sich von Ängsten geplagt und handlungsunfähig fühlen?

Anderl-Doliwa: Resilienz ist wie ein Muskel – er ist von Anfang an da, aber erst, wenn ich ihn trainiere und belaste, wächst er und wird stärker. Übertragen auf unser Leben bedeutet das: Auch Herausforderungen und Krisen zu bewältigen, erfordert Übung. Wir sollten also nicht gleich zu viel von uns verlangen.

Wagner: So ist es – wenn wir in unserem Leben schon viele Ausnahmesituationen erlebt haben, können wir aus der Erfahrung lernen. Dazu gehören auch alltägliche Herausforderungen: der erste Schultag, ein Auto kaufen, eine Wohnung renovieren, Man wächst buchstäblich daran. In schwierigen Situationen können wir uns an unserem früheren Handeln orientieren und uns klarmachen – was hat mir damals in dieser und jener Situation geholfen – wie bin ich damit umgegangen.

Dabei helfen uns natürlich die Menschen um uns herum, die uns Halt und Unterstützung geben und auf die wir uns verlassen können. Es hilft zu wissen, dass wir nicht alleine sind und dass andere ähnlichen Herausforderungen gegenüberstehen. Wir müssen nicht alles alleine können.

Was macht Resilienz gerade jetzt aus? Woran erkennen wir wie widerstandsfähig wir sind?

Anderl-Doliwa: In herausfordernden Zeiten ist es wichtig, dass wir uns unseren Tag strukturieren und möglichst viele alltägliche Routinen beibehalten oder schaffen. Denn die können uns in unsicheren Zeiten Sicherheit geben. Resilienz zeigt sich schon in kleinen Dingen – wenn ich trotz Homeoffice, Kurzarbeit oder Kontaktbeschränkungen morgens aufstehe und mich anziehe, mich zu gewohnten Zeiten ums Einkaufen und Essen kümmere, Spaziergänge mache oder kleine Projekte verfolge.
Wagner: Wir müssen das Gute in der Situation sehen. Ich denke da an eine Freundin, die aufgrund einer psychischen Erkrankung viele Jahre in einer betreuten Einrichtung gelebt hat und jetzt alleine lebt. Für sie ist die Corona-Krise mit all ihren Einschränkungen ein Sprungbrett, um in einen Alltag zu finden, den sie selbst strukturiert. Dabei denkt sie von Tag zu Tag – in kleinen Schritten. Auch das kann helfen: sich einen Plan für den nächsten Tag oder die nächste Woche zu machen, an dem man sich immer wieder orientieren kann. Zum Beispiel gehen sie und ich regelmäßig samstags zusammen wandern. Das kann schon ein Fixpunkt sein.

Was können wir tun, damit wir auch in schwierigen Zeiten zuversichtlich und ausgeglichen bleiben?

Wagner: Im Kontakt mit anderen bleiben! Der Austausch ist wichtig: wie gehen die anderen mit solchen Situationen um, welche Lösungsstrategien haben sie. So fühlen wir uns auch bestärkt in dem, was wir tun und dass wir auf dem richtigen Weg sind. Oder wir können uns durch eine andere Perspektive neu ausrichten.

Anderl-Doliwa: Anderen zu helfen oder ihnen eine Freude zu machen, kann auch uns selbst guttun. Eine Selbsthilfegruppe, mit der ich durch meinen Beruf eng in Kontakt bin, hat zum Beispiel all ihren Mitgliedern ein Päckchen Sonnenblumensamen mit der Post geschickt. Jeder für sich und doch alle gemeinsam konnten beobachten, wie die Sonnenblumen im eigenen Beet wachsen. Dieses kleine Projekt hatte nicht nur eine Aufgabe und ein Ziel –  nämlich, dafür zu sorgen, dass schöne Sonnenblumen wachsen. Es hatte auch etwas Verbindendes für die Menschen, die sich gerade nicht sehen konnten.

Wagner: Generell kann es uns guttun, kleine Projekte umzusetzen. Sie verschaffen uns ein Ziel, aber auch Aktivität, Ablenkung und positive Eindrücke. Und wir bekommen das Gefühl, dass wir selbst etwas bewirken können, statt der Situation gegenüber ohnmächtig zu sein.

Wenn uns akut Ängste und Sorgen überrollen – wie schaffen wir es, uns zu beruhigen und wieder nach vorne zu schauen?

Anderl-Doliwa: Unsere Gedanken tragen einen großen Teil dazu bei, wie wir uns fühlen. In solchen Situationen sollten wir uns zunächst darüber bewusst werden, dass wir grade im Katastrophenmodus denken. Dann müssen wir uns hinsetzen und sagen: Stopp jetzt mit den Gedanken. Es kann helfen die Gedanken aufzuschreiben und zu überlegen – was läuft trotz allem grade gut? Außerdem sollten wir uns klarmachen, dass jede Krise zeitlich begrenzt ist und die Lage sich irgendwann wieder entspannt.

Wagner: Wir sollten uns nicht als Opfer der Krise sehen, sondern erkennen: die Situation ist vielleicht nicht schön, aber ich kann etwas tun, um sie für mich und andere besser zu machen.

Welche Tipps können Sie geben, wie wir in guten Zeiten unsere seelische Widerstandskraft zu stärken, um in schwierigen Zeiten davon zehren?

Anderl-Doliwa: Indem wir die Krise reflektieren, können wir auch die positiven Aspekte darin erkennen. Ich frage mich zum Beispiel: Brauchen wir die ganzen Reisen oder geht es auch anders? Können wir besser mit uns umgehen, indem wir etwas von der Entschleunigung beibehalten?

Wagner: Mich erinnert die Frage an Napoleon. Während seiner Feldzüge hat er überlegt, wie er Essen haltbar machen und seine Soldaten über längere Zeit hinweg versorgen kann. So hat er die Konservendose entwickeln lassen, die heute noch nützlich ist. Die kreative Anpassung an eine schwierige Situation kann später noch Bestand haben – wie so vieles, was jetzt aus der Not heraus entwickelt wurde, auch nach der Corona-Krise noch bestehen wird.

Was tun Sie ganz persönlich, um in schwierigen Zeiten zuversichtlich und ausgeglichen zu bleiben?

Anderl-Doliwa: Etwas Gutes zu kochen und den Tisch schön zu decken oder im Garten zu arbeiten tut mir in stressigen Zeiten gut. Mein Garten war noch nie so schön wie jetzt.

Wagner: Raus aus der Kopfarbeit! Ich gehe jede Woche wandern mit einem Freund und einer Freundin. Einfach mal aus dem Alltag raus zu kommen, ist schön. Mich mit anderen auszutauschen tut mir gut – und auch mal über andere Themen zu sprechen.